Frühgeborene leiden später überdurchschnittlich häufig unter Aufmerksamkeitsdefiziten und
mangelnder Emotionsregulation. Seit fast zehn Jahren untersucht eine vom Schweizerischen
Nationalfonds (SNF) unterstützte Forschungsgruppe ein überraschendes Mittel, um das Problem
frühzeitig anzugehen: Musik. Im Universitätsspital Genf (HUG) beobachtete das Team bei mehreren
Kohorten von Säuglingen, die im Durchschnitt in der 29. Woche geboren wurden, wie diese auf die
Klänge reagieren. Bereits frühere Publikationen, die in den Medien viel Beachtung fanden, belegten
das Potenzial dieses Ansatzes. Die neueste Studie der Forschungsgruppe zeigt, dass Musik die
Verbindungsstruktur im Gehirn dort stärkt, wo Frühchen häufig Defizite aufweisen. Die letzte
Kohorte des Programms bestand aus 60 Frühgeburten, 32 davon erhielten eine Musiktherapie, die
anderen 28 bildeten die Kontrollgruppe. MRT-Scans zeigten ab einem Alter von 33 Wochen im Laufe
der Zeit Verbesserungen. Konkret beobachteten die Forschenden die bessere Entwicklung von
Verbindungen zwischen bestimmten Hirnbereichen, insbesondere im sogenannten Salienz-Netzwerk,
das es Menschen ermöglicht, Geräusche und andere Reize zu erkennen und einzuordnen.
"Frühgeborene weisen fast immer eine verminderte Konnektivität in diesem Netzwerk auf, auch im
Erwachsenenalter", erklärt Petra Hüppi, die das Forschungsprogramm leitet. Musik des
Komponisten Andreas Vollenweider Essenziell für die Salienz sind die Verbindungen
zwischen zwei Hirnregionen: der Inselrinde und dem vorderen zentralen Bereich der Grosshirnrinde.
Dank der Salienz verbinden Säuglinge zum Beispiel die Stimme der Mutter mit Wohlbefinden oder
das schrille Geräusch eines Alarms mit Angst, bei Frühgeborenen ist diese Fähigkeit jedoch weniger
ausgeprägt. Dass sich wiederholende Musik bei der Entwicklung dieses Schaltkreises im Gehirn eine
positive Rolle spielen kann, leuchtet ein. Doch es genügt nicht, wenn auf der Station ständig
Mozart gespielt wird. "Auf einer Intensivstation gibt es eine Fülle von Geräuschen und Alarmen, es
wäre nicht sinnvoll, diesen Lärmpegel noch zu verstärken", erklärt Petra Hüppi. Die Forschenden
verwendeten daher 8-minütige Sequenzen, die sie jedem Neugeborenen individuell über Kopfhörer
bei Übergängen von Schlaf und Wachzustand. vorspielten. Der Zürcher Komponist Andreas
Vollenweider hat geeignete Stücke geschrieben, die dem Alltag des Säuglings einen Rhythmus
geben und beruhigend wirken. Die Babys lernen dabei, die Melodie zu erkennen. Die
erste Kohorte von Frühchen ist heute acht Jahre alt Zwar ist die Wirkung der
Musiktherapie im MRI rasch sichtbar, doch ob der Ansatz langfristig Vorteile bringt, lässt sich nicht
sofort sagen. Bald werden die Forschenden jedoch mehr über die erste, 2016 geborene Kohorte
aussagen können. Die knapp zwanzig ehemaligen Frühgeborenen sind inzwischen acht Jahre alt.
Das ist ein gutes Alter, um neue MRI-Bilder zu machen sowie Verhaltenstests durchzuführen und
kognitive Fähigkeiten zu erfassen. Die Ergebnisse, unabhängig davon wie sie ausfallen, müssen
durch spätere, grössere Kohorten bestätigt werden. "Der Zeithorizont ist bei diesem Projekt sehr
lang", erklärt Petra Hüppi. Das sehr junge Alter der Versuchspersonen stelle ihr Team auch immer
wieder vor technische Schwierigkeiten. Sofern sich die vermuteten positiven Wirkungen
bestätigen, könnte Musik in den Intensivstationen für Frühchen zum weltweiten Standard werden.
Petra Hüppi ist optimistisch, was die neuen Erkenntnisse angeht, und hat bereits ein entsprechendes
Projekt in die Wege geleitet. In Zusammenarbeit mit Labors an der EPFL will sie die Therapie bei
Neugeborenen mittels künstlicher Intelligenz automatisieren. "In der Praxis hat niemand Zeit, sich
darum zu kümmern, dass für jedem Frühgeborenen zur richtigen Zeit Musik abgespielt wird", erklärt
sie. Die KI soll lernen, die Wach-, Einschlaf- und Aufwachphasen von Säuglingen zu erkennen,
beispielsweise anhand von Veränderungen der Herzfrequenz, von Gesichtsausdrücken und
Bewegungen. Damit alle Frühgeborenen von der positiven Wirkung der Melodien profitieren können.
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Petra S. Hüppi
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